Küchenfensterblick
Montag, 8. Mai 2006
Kreuzworträtsel
In der Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen löste er Kreuzworträtsel. Seit zwei Jahren ging das nun schon so. Jeden Tag. Kurz nach dem Umzug ins Altersheim hatte er damit angefangen. Mit dem letzten Schluck dünnen Kaffees nahm er seine Zeitung und das dicke Rätselbuch und setzte sich an den Tisch am Eckfenster. Das Buch hatte sein Enkel ihm besorgt und sein mitleidiger Blick war dem alten Mann nicht entgangen.
Er hatte schnell gemerkt, dass ihn die anderen Bewohner in Ruhe ließen solange er vor sich hin murmelnd über die Reihen und Spalten gebeugt saß - und das war ihm nur Recht. Ihr belangloses Geschwätz, die immergleichen Krankengeschichten und Schicksale waren ihm herzlich egal. Bis zum Mittag wollte er seinen Gedanken ungestört nachhängen. Kreuzworträtzel waren in dieser Umgebung das geeignetste Mittel dazu.
Die Heimleitung begrüßte sein Engagement geistig rege zu bleiben, wie sie es nannten. Er verachtete ihre Ignoranz und das gehuechelte Mitleid. Er wußte gut genug, dass das überforderte, unterbezahlte und demotivierte Klinikpersonal froh um jeden war, der es nicht mit seinen Gebrechen und Ansprüchen behelligte.
Sie wußten so gut wie er, dass er auch die Vormittage lieber auf seinem Zimmer verbracht hätte, wo er den Nachmittag und Abend mit Lesen und schreiben verbrachte. Der ritualisierte Reinigungsplan des Heims stand dem entgegen und so fand er sich eines Morgens Elisabeth gegenüber, die sich wortlos an seinem Tisch niedergelassen hatte.
Mit einem Schnauben bekundete er seinen Unmut. Dann versank er wieder in seinen Rätseln. Sie blieb schweigend sitzen, musterte abwechselnd ihn, das geschäftige Treiben im Aufenthaltsraum und die kürzer werdenden Schatten im Garten.
Am dritten Tag sprach sie ihn an. Ob sie den übrigen Teil der Zeitung haben könne. Nickend, ohne aufzublicken, schob er ihr den Stapel Papier hin. Schnell entwickelte sich ein Ritual und so saßen Sie sich bereits in der dritten Woche gegenüber als er das ersten mal auf ihren Morgengruß reagierte. Ein knappes "Morgen" war alles, was er zustande brachte.
Ein Lächenln huschte über ihr Gesicht bevor sich sich ihrem Teil der Zeitung widmete.Kurz vor dem Mittagessen sah sie erneut auf."Gehen sie eigentlich auch gerne spazieren", fragte sie plötzlich.
Hastig steckte er seinen Kugelschreiber in die Brusttasche, packte die Rätsel zusammen und ging ohne Antwort.
Auf seinem Zimmer angekommen lehnte er sich schwer atmend gegen die Türe.

Er ging in das kleine Badezimmer seines Appartements und ließ das Waschbecken vollaufen. Kaltes Wasser im Gesicht half ihm dabei, den Gedankensturm unter Kontrolle zu bekommen. Warum hatte er derart panisch auf diese simple Frage nach einem Spaziergang reagiert. Er erinnerte sich zurück an die Zeit in der Ruth und er lange Spaziergänge an der Ostsee gemacht hatten. Damals, lange bevor die Krankheit sie erst an den Rollstuhl, später dann ans Bett gefesselt hatte. Sie hatte es geliebt, stundenlang den Strand entlangzugehen. Die Schuhe lose in der einen Hand während sie mit der anderen ihr vom Wind zerzaustes Haar zurückstrich.

Die Erinnerung nahm ihm erneut den Atem. Trotzdem, Ruths Tod war mittlerweile drei Jahre her. Er hatte gehofft besser damit klar zu kommen. Sich abzuschotten hatte ihm dabei geholfen, sich frei und ohne Erwartungen anderer zu bewegen. Seine Trauer hatte er nie geteilt. Die zahllosen Lamentos anderer Bewohner hatte er stets als Schwäche ausgelegt.
Elisabeths Auftauchen (ihren Namen hatte er über ein zufällig mitgehörtes Gespräch des Heimleiters mit der neuen Psychologin erfahren) hatte sein inneres Exil ins Wanken gebracht.
Insgeheim fühlte er sich geschmeichelt. Ihre distanziert beharrliche Art war ihm sympathisch geworden. Dennoch war ihre Frage ein Schock gewesen. Das musste sie gewusst – zumindest erahnt haben – als sie ihn derart aus der Reserve gelockt hatte. Ein Wechsel ihrer Taktik, wie er nun bewundernd anerkannte.
Er trocknete die letzten Tropfen auf seinem Gesicht, nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank, betrachtete sich kurz im Spiegel und verließ das Zimmer zu seinem ersten Spaziergang seit einer Ewigkeit.