Küchenfensterblick
Sonntag, 4. Mai 2008
Heimatlos, haltlos
Ich habe viele Freunde, deren Eltern irgendwann in den 60er oder 70er Jahren nach Deutschland kamen, um ein neues Leben zu beginnen. Auch wenn ihre Kinder hier eine Heimat fanden, sie selbst taten sich schwer damit, anzukommen. Loszulassen. Ganz gleich, ob es der Vater war, der aus Griechenland gekommen war, oder die Mutter, die aus Irland nach Deutschland kam - der Liebe wegen.
Dieser Generation an Einwanderern, die auch bei "Maria, ihm schmeckt's nicht" beschrieben wird und in Form des lustigen Tonis für Erheiterung sorgt, ist eines gemein. Viele von ihnen haben eine Heimat verlassen, die danach nicht mehr Heimat sein konnte und sind in ein Land gegangen, das für sie nie Heimat wurde.
Auch wenn ich in meinem Leben (schon als Kind) häufig umgezogen bin, diese Heimatlosigkeit ist etwas, was ich nicht kenne. Wie tief dieser Mangel an Heimat Menschen erschüttern kann, habe ich nie bewusst erfasst. Vor einigen Wochen habe ich es miterleben müssen.
Bei den Eltern einer engen Freundin kam es nach dem 60. Geburtstag des Vaters zu einer Tragödie.
Die Eltern (der Vater aus Kroatien, die Mutter aus Portugal) hatten sich hier in Deutschland kennen gelernt und waren Jahr für Jahr nach Kroatien gefahren, um sich dort auf einem kleinen Grundstück ein Häuschen zu bauen. Es war ein Familienprojekt bei dem auch die Kinder halfen. Bis der Krieg kam und die Kinder größer wurden, ihr eigenes Leben lebten. Als das Haus vor einigen Jahren fertig war, gestand die Frau ihrem Mann, dass sie sich nicht mehr vorstellen könne, Deutschland zu verlassen. Das Land in dem sie zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, in dem sie Freunde gefunden und ein halbes Leben verbracht hatte war für sie ein Stück Heimat geworden. Für ihn nicht.
Am 60. Geburtstag brach die ganze Leere, die durch den geplatzten Traum vom Leben in der alten Heimat, (seiner alten Heimat) entstanden war, aus ihm heraus. Als der letzte Gast und die Kinder mitsamt der neugeborenen Enkeltochter die Wohnung verlassen hatte, war für ihn das Ende erreicht.
Alles was er aufgebaut hatte schien zu Staub zerfallen. Er ging auf seine Frau los um erst ihr und dann sich das Leben zu nehmen. Es war ihm Ernst und erst im letzten Moment lies er zum Glück von ihr ab. Die Frau, die er geliebt hatte, für die er sein Leben in Deutschland verbracht hatte, floh zu den Kindern. Er blieb verstört und am Boden zurück.
Sie hat ihn nicht angezeigt. Auch wenn die Nachbarn das meinten, weil die Kinder die Polizei verständigt hatten, um ihren Vater in Sicherheitsverwahrung zu nehmen. die Kinder bemühten sich um Gespräche mit Ärzten, mit Psychologen. Aber die Leere und den Ekel vor sich selbst konnte ihm niemand nehmen. Den Ekel und die Angst vor dem Menschen, der er geworden war.
Vor wenigen Wochen hat er sich im Kirschbaum - unter dem wir vor Jahren gemeinsam meine Hochzeit gefeiert haben - erhängt.
Und ich kann es noch immer nicht fassen.

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Donnerstag, 8. Februar 2007
Licht
Als er das Zimmer verließ, den dunklen Flur hinunterging, summte er eine fröhliche Melodie und mit jedem Schritt wurde sein Gang leichter, schwungvoller.
Das Klappern der Tastaturen, klingelnde Telefone, eine röchelnde Kaffeemaschine, alles verwoben zu einem Klangteppich des Abschieds. Monate voller Telefonate, Pläne und Projekte lagen hinter ihm. Stunden voller Anspannung, Momente kleiner Triumphgefühle und ein ständiges Haddern. Kein Bereuen, aber auch kein Bedauern.
Er wußte, dass diese Übergangsphase nur von kurzer Dauer sein würde. Dass auch das Neue in wenigen Wochen alt sein würde. Dass er nicht raus kann aus seiner Haut und weiter haddern würde.
Doch für die wenigen Tage zwischen Abschied und Neubeginn war alles erleuchtet und leicht im Licht der Frühjahrssonne.

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Montag, 29. Januar 2007
Dieser Tag im Sommer
Die Tore der Hölle öffneten sich. Der Schmerz kam ungefiltert und mächtig. Eiskalt und von diabolischer Reinheit. Es war, als würde ein über Jahre dichter gewordener, gütiger Schleier der Verdrängung mit einer einzigen kraftvoll fließenden Bewegung fortgerissen.
Sie stand allein im Licht ihrer neu gewonnenen (und doch längst erahnten) Erkenntnis.
Gern hätte sie das Bewusstsein verloren - sie verlor den Verstand so wie sie den einzigen Menschen verlor, dem sie je getraut hatte.

Als ich sie einige Tage später zufällig traf, war sie nur ein Schatten ihrer selbst. Nichts hatte sie auf die Einsamkeit vorbereitet und es war, als krümmte sich ihre Seele zu einem kleinen, harten Ball tief in ihrem Innersten zusammen. Ganz so wie damals als Kind, wenn ihr Stiefvater kam und ihre Mutter aus der Wohnung ging.

27 Jahre Ehe, neun Jahre Betrug und noch ein halbes Leben vor sich, um damit fertig zu werden.
Was die Psychiatrie nach einigen Wochen ausspuckte war die Illusion einer starken Frau, die sich erst Jahre später wieder mit Leben füllen sollte.

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Dienstag, 22. August 2006
Die Ruhe davor
Kein Hauch, kein Laut. So leise war es seit Wochen nicht mehr gewesen. Beängstigend. Er drehte sie zu sich.

Die ganze Zeit hatte er gesprochen, geschimpft, getobt. Mal wieder ging es um ihn. Er war laut geworden. Mit der Zeit hatte er sich immer wohler dabei gefühlt. Die Worte prasselten auf sie herab wie saurer Regen. Er sah ihr zu wie sie darin ertrank. Erst wollte er nicht aufhören, dann konnte er nicht mehr. Als er spürte wie sich ein Teil von ihm löste und zu ihr ging, hatte er noch immer nicht die Kontrolle über sich zurückgewonnen. Erst als er sie berührte versagte ihm die Stimme. Da war nichts mehr was zu sagen wäre und genau so fühlte es sich an. Ihre Haut fühlte sich rau an unter seinen Fingerspitzen.

Und dann verließ sie ihn.

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Mittwoch, 12. Juli 2006
Flashback mit Billy Bragg
Mit Billy Bragg im Ohr und einem mulmigen Gefühl im Bauch saß er in der U-Bahn. Entscheidungen standen an. Er könnte heute viel verändern - Strukturen zerschlagen, alte Zöpfe abschneiden.
Der Mann im Ohr hielt ihm die Konsequenzen vor.
Viel hatte sich verändert in den letzten zehn Jahren. Auch seine Vorstellungen von Gerechtigkeit, von Leistung und Einsatz. Er laß andere Zeitungen als damals und immer seltener fand sich ein Buch auf seinem Nachttisch. Sachbücher meist oder aktuelle Titel, um bei den seltenen Essen mit Kollegen den passenden Eindruck zu vermitteln. Seit sie Hörbücher machten hatte er auch hier Einsparpotenziale realisieren können. In jeder Beziehung.
Über die alte Billy Bragg CD war er zufällig gestolpert. Sie lag in einer Kiste mit Erinnerungsstücken und us einer Laune heraus, Masochismus vielleicht, hatte er sie nicht mit dem anderen Kram in den Müll geworfen. Stattdessen hatte er sie herausgezogen, die Songs überspielt und jetzt im Ohr.
Schon mit den ersten Takten hatte sich etwas in ihm geregt. Ein Reigen an Erinnerungen. Vergessene Freunde, denkwürdige und doch verblasste Abende.
Wie gebannt saß er in seinen Sitz gepresst und begann zu schwitzen. Spürend, dass etwas zu klingen began in ihm. Eine rostige Saite.
Hastig zog er den Kopfhörer aus den Ohren und suchte nach den Dokumenten für das anstehende Fusionsgespräch.

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Dienstag, 27. Juni 2006
Eine lange Reise
Schon als Kind hatte er sich vorgestellt, wie es wohl wäre. Einfach sitzen bleiben. Nicht aussteigen aus dem Zug, wenn er am eigentlichen Zielbahnhof ankommt. Weiterfahren an Orte der Namen so verheißungsvoll klingen. Sich von den Lautsprecheransagen verführen lassen und immer tiefer eindringen in dieses Schienensystem, das ganz Europa verbindet.
Mit 36 war er dann soweit. Unterwegs zu einem Termin in Berlin ließ er erst den Haupt- dann den Ostbahnhof an sich vorbeiziehen. Er klappte das Laptop, mit dem er sich eher unwillig seit Hamburg beschäfftigt hatte zu und ließ das Mobiltelefon auch weiterhin ausgeschaltet. Die weiten Strecken ohne Empfang hatten für ihn auf dieser Strecke immer schon einen Hauch von Anarchie gehabt. Eine vorgetäuschte Freiheit die mit dem Aufblinken der entgangenen Anrufe schon wenige Minuten nach der Ankunft in schöner Regelmäßigkeit vernichtet wurde.

Jetzt aber saß er da und ließ die Landschaft an sich vorüber ziehen. Ließ die Felder und die vereinzelten Waldabschnitte auf sich einwirken und spürte, wie die Aufregung einer tief empfundenen Erleichterung Platz machte. Er widerstand dem Drang, im Reiseplan nach Anschlusszügen zu suchen. Er dachte kurz an die Gesichter der Kollegen, an die Anrufe die nun zwischen Berlin und Hamburg hin- und hergehen würden und dann, dann schlief er ein.

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Dienstag, 16. Mai 2006
Nahe liegend
- Gekündigt? Alles hingeschmissen? Was soll das heißen? Ich verstehe das nicht!

Ihre Stimme kippte ins hysterische und er wusste, dass dieser Moment entscheidend sein würde.

- Es war einfach nahe liegend, verstehst Du? Ich meine, wir leben immer mehr aneinander vorbei. Die Kinder sind aus dem Haus und eigentlich sollten jetzt die besten Jahre unseres Lebens anfangen. Ich habe mehr als 25 Jahre gearbeitet, damit es uns einmal besser geht als damals unseren Eltern. Dafür habe ich meine Kinder nur am Wochenende gesehen und Dich ein paar Stunden mehr. Wenn wir in den Urlaub fahren bin ich zu mehr als schlafen kaum in der Lage. Ich stehe um sechs Uhr auf und gehe um Mitternacht ins Bett. Seit 25 Jahre. Ich fühle mich schon nicht mehr wie ein Mensch. Ich funktioniere nurnoch. Manchmal frage ich mich sogar, ob es einen Unterschied macht ob ich überhaupt nach Hause komme. Ich will das nicht mehr. Ich will dieses ganze verdammte Geld nehmen und etwas damit machen. Für mich machen, für uns. Ich habe keine Ahnung was und das erschreckt mich am meisten. Aber ich werde es nie herausfinden, wenn ich es nicht versuche. Du kannst mit mir kommen oder es bleiben lassen. Aber ich werde es tun.

Er war es gewohnt Vorträge zu halten, aber sein Herz raste. In ihm baute sich eine Anspannung auf, die er fast vergessen hatte. Angst gemischt mit dem Drang nach Veränderung. Er blickte ihr in die Augen und wartete.

Sie nahm sich Zeit bevor sie aufblickte. Ihre Lippen zitterten noch als sich das Lächeln bereits in ihren Augen abzeichnete.

- Gut, dann fange ich an zu packen.

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Sonntag, 26. März 2006
Gegen Ende
Erst hatte sie sich gefangen gefühlt. Dieser alte Körper, der sie immer mehr im Stich ließ. Sie hatte geweint, als sie den Rollstuhl zur Tür hereinbrachten. Sie hatte geflucht über ihre alten Knochen. Die Gelenke, die zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Sie hatte sich gewehrt. Jahrelang. Vor Verbitterung war sie immer stiller geworden. Dabei hatte sie so schön gesungen. Damals. Seit sie nicht mehr tanzen konnte, war ihr die Musik grausam geworden.
In diese Stille hinein hat man ihr den Neuen geschickt. Erst war er ihr eine Zumutung. Seine mangelnde Erfahrung im Umgang mit ihrem alten Körper. Die Scham, der Schmerz. Er war geblieben. Immer ein paar Minuten länger als nötig. Hatte sich hingesetzt ans Fenster, den Vorhang leicht zugezogen, um sie nicht den Sonnenstrahlen auszusetzen.
Nach ein paar Tagen brachte er Papier.
„Sollen wir anfagen?“
Und mit jedem Wort ließ ihr Schmerz nach.

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Freitag, 24. März 2006
Veränderungen
"Wie willst Du das den Kindern erklären?"
Es war spät geworden und noch immer saßen sie am Küchentisch. Die leeren Teller neben, die halbvollen Weingläser vor sich.
"Das weiß ich nicht!"
Jetzt war er doch laut geworden.

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