Küchenfensterblick
Mittwoch, 17. Mai 2006
Der Mann vom Verband
Der Mann vom Verband machte das Licht aus. Er hatte genug für heute. Diese ständigen Fragen, diese besserwisserische Meute von Journalisten und Reportern und jetzt auch noch Unternehmensvertreter, die das alles ganz anders gemeint hatten mit dem Markenschutz und ihren Sponsorenrechten.
Er schüttelte den Kopf während er den Knopf für den Aufzug drückte, der ihn in Höchstgeschwindigkeit vom 32 Stock in die Tiefgarage befördern sollte.
Was kamen die jetzt plötzlich mit ihren "Ist doch nur ein Spiel" Ausreden. Er war lange genug dabei. Er kannte die Regeln. Er hatte einige davon selbst gemacht.
Es ging um zuviel Geld, um die Aufmerksamkeit dieser dummen Massen die wie Vieh vor ihre Fernseher getrieben werden sollten. Da bleibt auch mal eine Kuh auf der Strecke. Wenn diese Bürschchen im Marketing jetzt kalte Füße bekamen weil sie merkten, dass ihnen die Controller schon längst das Ruder aus der Hand genommen hatten, dann war das nicht sein Problem.

Er startete den Benz und glitt aus dem Tor. Im Radio lief der Song zum Event, am Strassenrand reihten sich die Plakatwände der Sponsoren und am Horizont ging die Sonne wie ein gigantischer Fußball unter.

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Dienstag, 16. Mai 2006
Nahe liegend
- Gekündigt? Alles hingeschmissen? Was soll das heißen? Ich verstehe das nicht!

Ihre Stimme kippte ins hysterische und er wusste, dass dieser Moment entscheidend sein würde.

- Es war einfach nahe liegend, verstehst Du? Ich meine, wir leben immer mehr aneinander vorbei. Die Kinder sind aus dem Haus und eigentlich sollten jetzt die besten Jahre unseres Lebens anfangen. Ich habe mehr als 25 Jahre gearbeitet, damit es uns einmal besser geht als damals unseren Eltern. Dafür habe ich meine Kinder nur am Wochenende gesehen und Dich ein paar Stunden mehr. Wenn wir in den Urlaub fahren bin ich zu mehr als schlafen kaum in der Lage. Ich stehe um sechs Uhr auf und gehe um Mitternacht ins Bett. Seit 25 Jahre. Ich fühle mich schon nicht mehr wie ein Mensch. Ich funktioniere nurnoch. Manchmal frage ich mich sogar, ob es einen Unterschied macht ob ich überhaupt nach Hause komme. Ich will das nicht mehr. Ich will dieses ganze verdammte Geld nehmen und etwas damit machen. Für mich machen, für uns. Ich habe keine Ahnung was und das erschreckt mich am meisten. Aber ich werde es nie herausfinden, wenn ich es nicht versuche. Du kannst mit mir kommen oder es bleiben lassen. Aber ich werde es tun.

Er war es gewohnt Vorträge zu halten, aber sein Herz raste. In ihm baute sich eine Anspannung auf, die er fast vergessen hatte. Angst gemischt mit dem Drang nach Veränderung. Er blickte ihr in die Augen und wartete.

Sie nahm sich Zeit bevor sie aufblickte. Ihre Lippen zitterten noch als sich das Lächeln bereits in ihren Augen abzeichnete.

- Gut, dann fange ich an zu packen.

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Montag, 8. Mai 2006
Kreuzworträtsel
In der Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen löste er Kreuzworträtsel. Seit zwei Jahren ging das nun schon so. Jeden Tag. Kurz nach dem Umzug ins Altersheim hatte er damit angefangen. Mit dem letzten Schluck dünnen Kaffees nahm er seine Zeitung und das dicke Rätselbuch und setzte sich an den Tisch am Eckfenster. Das Buch hatte sein Enkel ihm besorgt und sein mitleidiger Blick war dem alten Mann nicht entgangen.
Er hatte schnell gemerkt, dass ihn die anderen Bewohner in Ruhe ließen solange er vor sich hin murmelnd über die Reihen und Spalten gebeugt saß - und das war ihm nur Recht. Ihr belangloses Geschwätz, die immergleichen Krankengeschichten und Schicksale waren ihm herzlich egal. Bis zum Mittag wollte er seinen Gedanken ungestört nachhängen. Kreuzworträtzel waren in dieser Umgebung das geeignetste Mittel dazu.
Die Heimleitung begrüßte sein Engagement geistig rege zu bleiben, wie sie es nannten. Er verachtete ihre Ignoranz und das gehuechelte Mitleid. Er wußte gut genug, dass das überforderte, unterbezahlte und demotivierte Klinikpersonal froh um jeden war, der es nicht mit seinen Gebrechen und Ansprüchen behelligte.
Sie wußten so gut wie er, dass er auch die Vormittage lieber auf seinem Zimmer verbracht hätte, wo er den Nachmittag und Abend mit Lesen und schreiben verbrachte. Der ritualisierte Reinigungsplan des Heims stand dem entgegen und so fand er sich eines Morgens Elisabeth gegenüber, die sich wortlos an seinem Tisch niedergelassen hatte.
Mit einem Schnauben bekundete er seinen Unmut. Dann versank er wieder in seinen Rätseln. Sie blieb schweigend sitzen, musterte abwechselnd ihn, das geschäftige Treiben im Aufenthaltsraum und die kürzer werdenden Schatten im Garten.
Am dritten Tag sprach sie ihn an. Ob sie den übrigen Teil der Zeitung haben könne. Nickend, ohne aufzublicken, schob er ihr den Stapel Papier hin. Schnell entwickelte sich ein Ritual und so saßen Sie sich bereits in der dritten Woche gegenüber als er das ersten mal auf ihren Morgengruß reagierte. Ein knappes "Morgen" war alles, was er zustande brachte.
Ein Lächenln huschte über ihr Gesicht bevor sich sich ihrem Teil der Zeitung widmete.Kurz vor dem Mittagessen sah sie erneut auf."Gehen sie eigentlich auch gerne spazieren", fragte sie plötzlich.
Hastig steckte er seinen Kugelschreiber in die Brusttasche, packte die Rätsel zusammen und ging ohne Antwort.
Auf seinem Zimmer angekommen lehnte er sich schwer atmend gegen die Türe.

Er ging in das kleine Badezimmer seines Appartements und ließ das Waschbecken vollaufen. Kaltes Wasser im Gesicht half ihm dabei, den Gedankensturm unter Kontrolle zu bekommen. Warum hatte er derart panisch auf diese simple Frage nach einem Spaziergang reagiert. Er erinnerte sich zurück an die Zeit in der Ruth und er lange Spaziergänge an der Ostsee gemacht hatten. Damals, lange bevor die Krankheit sie erst an den Rollstuhl, später dann ans Bett gefesselt hatte. Sie hatte es geliebt, stundenlang den Strand entlangzugehen. Die Schuhe lose in der einen Hand während sie mit der anderen ihr vom Wind zerzaustes Haar zurückstrich.

Die Erinnerung nahm ihm erneut den Atem. Trotzdem, Ruths Tod war mittlerweile drei Jahre her. Er hatte gehofft besser damit klar zu kommen. Sich abzuschotten hatte ihm dabei geholfen, sich frei und ohne Erwartungen anderer zu bewegen. Seine Trauer hatte er nie geteilt. Die zahllosen Lamentos anderer Bewohner hatte er stets als Schwäche ausgelegt.
Elisabeths Auftauchen (ihren Namen hatte er über ein zufällig mitgehörtes Gespräch des Heimleiters mit der neuen Psychologin erfahren) hatte sein inneres Exil ins Wanken gebracht.
Insgeheim fühlte er sich geschmeichelt. Ihre distanziert beharrliche Art war ihm sympathisch geworden. Dennoch war ihre Frage ein Schock gewesen. Das musste sie gewusst – zumindest erahnt haben – als sie ihn derart aus der Reserve gelockt hatte. Ein Wechsel ihrer Taktik, wie er nun bewundernd anerkannte.
Er trocknete die letzten Tropfen auf seinem Gesicht, nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank, betrachtete sich kurz im Spiegel und verließ das Zimmer zu seinem ersten Spaziergang seit einer Ewigkeit.

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Freitag, 5. Mai 2006
Stau
Er began zu schwitzen. Die stehenden Autos um ihn herum, die Sonne auf der Windschutzscheibe, der unangenehm neue gruch des Mietwagens. Ein bisschen viel, dachte er sich und lockerte den Krawattenknoten. Seidel neben ihmsprach seit einer Viertelstunde ohne Punkt und Komma in sein Handy.
Sie würden den Termin nicht halten können, ganz egal, ob sich der Stau vor ihm in Luft auflösen würde oder nicht. Den Anflug von Panik versuchte er, durch ein paar Knöpfe an der Klimaanlage zu vertreiben. Sein linkes Auge fing an zu tränen, das Zittern im Bein war wieder da. Er hatte seit dem morgen nichts gegessen. Zwei Flüge und ein Meeting später forderte sein Körper Zucker und Schlaf. Er fluchte.
Seidel warf ihm einen genervten Blick von der Seite zu und redete weiter auf den Kunden ein.
Nicht mal Musik, dachte er.
Dann stellte er den Motor ab, stieg aus und ging auf den Wald am Fahrbahnrand zu.

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Nachts
Auch ihr regelmäßiges Atmen neben ihm konnte ihn nicht beruhigen. Er war mitten in der Nacht aufgewacht. Einen stummen Schrei auf den Lippen. Irgendwo glimmte der Digitalwecker. Seit einer Stunde lag er nun regungslos im Dunkeln und wartete daruaf, dass sein Herzschlag sich beruhigte, seine Gedanken sich ordneten. Vergeblich. Er hatte sich zu viel zugemutet und diese Nacht würde er den Preis dafür bezahlen.

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Freitag, 5. Mai 2006
Los
- Angst?
Sie blickte mich besorgt an. Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Erst langsam, dann entschieden.
- Nein, das ist es nicht. Aber es wird alles anders und ich wundere mich über die Geschwindigkeit.
Sie lächelte.
- Wenigstens sind wir zusammen.
Dann ging es los und ich hatte keine Zeit mehr darüber nachzudenken, ob das die Dinge nicht komplizierter machte.

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